Der Künstler Peter Kutin baut an den Ruinen der Benther Bergterrassen eine Klangkomposition für das Hörfestival Intraregionale auf. Stimmen aus allen Himmelsrichtungen beklagen die illegale Zurückweisung von Migranten an den europäischen Außengrenzen.
Zunächst sind es sanfte Klänge, die die Neugierde wecken. Dann verwandeln sich die Töne in ein gläsernes Zirpen – unaufdringlich, aber dennoch untypisch für eine Ruine, die langsam von der Natur zurückerobert wird, wie die Benther Bergterrassen. Die entspannende Klangwolke ist Teil einer Installation, die der Wiener Künstler Peter Kutin für das Klangkunstfestival Intraregionale vom 13. Juni bis 18. Juli auf den alten Gemäuern errichtet.
Schließlich werden die Geräusche durchbrochen: erst von einer fremdsprachigen Stimme aus östlicher Himmelsrichtung, dann von einer Ansprache mediterranen Ursprungs aus dem Süden. „Das ist Italienisch“, sagt Peter Kutin und überprüft noch einmal auf seinem Handykompass die gewünschte Himmelsrichtung.
Der Österreicher hört in diesen Tagen an den früheren Benther Bergterrassen immer wieder ganz genau hin. Schließlich soll seine Klanginstallation rund um die Ruinen des 1975 abgebrannten Ausflugslokals schon in wenigen Tagen bei Spaziergängern und Besuchern eine ganze besondere Wirkung entfalten.
Kritik an Abschottungspolitik
„Kompass“ – so heißt das Werk des Künstlers. „Weil das Ohr des Zuhörers zur Kompassnadel werden soll“, wie Kutin sagt. Er lässt aus den Lautsprechern regelmäßig Stimmen erklingen, die jeweils in einer Landessprache der 27 EU-Mitgliedsstaaten aus der entsprechenden Himmelsrichtung eine symbolische Anklage verlesen. Laut Kutin verurteilen die Redner das illegale Zurückweisen von Migranten hinter die Grenzen der Zielländer. Die Texte habe er von Partnern aus seinem Netzwerk einlesen lassen, sagt Kutin.
Der Künstler nutzt seine Kritik an den Menschenrechtsverletzungen für eine Doppelsymbolik: „Einerseits erzählt der überwucherte Ausflugsort mit sanften Klängen von der fragilen Vergänglichkeit des Lebens, andererseits symbolisieren die Stimmen einen belebten Versammlungsort“, sagt der 38-Jährige.
„Moment der Ruhe finden“
Die Bergterrassen sind einer von insgesamt zwölf Ausstellungsorten des von mehreren Kunstvereinen und der Hörregion veranstalteten Festivals im Umland Hannovers. „Die Kompassnadel der Besucher soll nach innen zeigen“, sagt der 38-jährige Kutin. Was er damit meint: Seine Klangwolke soll Besucher zum Verweilen und Entspannen einladen. „Man muss bei der ständigen Hetzerei des Alltags auch einen Moment der Ruhe finden“, sagt Kutin.
169 Bewerbern aus 39 Nationen
Der 38-Jährige Kutin hat sich mit seiner Bewerbung als einer von zwölf Künstlern im Auswahlverfahren unter insgesamt 169 Kandidaten aus 39 Nationen durchgesetzt. Seit seinem Abschluss des Studiums Elektroakustische Musik an der Universität für Musik und darstellende Kunst in Wien im Jahr 2005 ist er als freischaffender Künstler tätig.
Für seine Klangkomposition wurde ihm der Ausstellungstandort am Benther Berg zugeteilt. Zum Programm gehört außer Klanginstallationen an ungewöhnlichen Orten auch ein Begleitprogramm mit Konzerten, Vorträgen und Kursen.
Kutin ist bereits seit einigen Tagen mit seinem Assistenten Fabian Lanzmaier in Benthe, um den Standort zu erkunden und seine Installation einzurichten. Das Tonwerk soll an den Ausstellungstagen jeweils von 9 bis 21 Uhr zu hören sein. Für die Umsetzung seines Entwurfes erhält er ein Honorar von 5500 Euro.
Inzwischen habe er mit seinem Assistenten schon mehrere Zwölfstundentage hinter sich. Über den Ruinen beschallt inzwischen jeweils ein Lautsprecher aus jeder Himmelsrichtung meterhoch über dem Erdboden von Bäumen herab den Festivalstandort.
Kutin bezeichnet sich als akustischen Bildhauer dieser Gesamtszenerie. Auch deshalb hört er sich immer wieder die Klänge und Stimmen an – gleicht auf einem Laptop Lautstärken und Richtungen an. „Die Leute sollen darüber nachdenken, was auf der Welt passiert, obwohl die Vergänglichkeit so viele Dinge relativiert“, sagt er. Kutin will aber eine noch größere Wirkung entfalten: „Weil die Laute verschwimmen, soll es möglich sein, in Ruhe zu reflektieren.“
Von Ingo Rodriguez, 09.06.2021